Fußballklassiker in der Neuzeit – 1200 Chemiker feiern trotz Niederlage
Die BSG Chemie Leipzig musste in der Regionalliga Nordost beim alten Rivalen BFC Dynamo antreten und verlor mit 0:3. Über 1200 Leutzscher – rund 800 davon mit einem Sonderzug – reisten zur Partie im Berliner Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark an und feierten ihr Team trotz der Niederlage. Ich gehörte zu den 500 Individualreisenden und war bereits zwei Tage zuvor in der Hauptstadt angekommen.
Vor über 30 Jahren – in der Saison 1984/85 – war die Partie erstklassig und fand in der damaligen DDR-Oberliga statt. Sowohl das Hinspiel (3:0) als auch das Rückspiel in Berlin (5:1) endete zu
Gunsten des zehnfachen DDR-Fußballmeisters aus der Hauptstadt. Der BFC holte sich am Saisonende den Titel, Chemie Leipzig – immerhin zweifacher Meister – stieg ab und verabschiedete sich bis zur
Saison 1990/91 aus dem Fußball-Oberhaus.
Fortan hieß es FC Berlin gegen den FC Sachsen Leipzig, da beide Vereine unter neuem Namen in der letzten Spielzeit der höchsten Spielklasse der DDR an den Start gingen. Die Brisanz in den Duellen
blieb aber weiterhin erhalten und gipfelte am 3. November 1990 mit einem tragischen Todesfall. Der BFC-Fan Mike Polley wurde am Rande der Begegnung von einer Polizeikugel getroffen und
verstarb.
…
Beide Vereine stürzten in der Folgezeit tief ins Amateurlager ab, gingen insolvent und trafen zum letzten Mal in der Saison 1999/2000, in der damals noch drittklassigen Regionalliga Nordost,
aufeinander. Der FC Sachsen gewann im heimischen Alfred-Kunze-Sportpark mit 2:1 und trennte sich im Rückspiel im Sportforum Hohenschönhausen mit 0:0 von den Berlinern. Nach über 17 Jahren traf
man sich nun unter den alten Namen in der mittlerweile viertklassigen Regionalliga wieder.
Ich war bereits vor zwei Tagen aus meiner neuen Heimat Frankfurt angereist, hatte mir am Freitag im „Mommsen“ Tennis Borussia Berlin gegen den Malchower SV angesehen, am Samstag das 2:2 zwischen
Eintracht Frankfurt gegen Dortmund in der „Glühlampe“ verfolgt und wartete nun leicht angeschlagen am Bahnhof Gesundbrunnen, auf die Ankunft des Sonderzugs aus Leipzig.
Der hatte 40 Minuten Verspätung und war mit 800 Leutzschern völlig überfüllt, da die Deutsche Bahn einfach mal zwei Waggons „vergessen“ hatte. Rund 500 weitere separat angereiste Chemiker
warteten ebenfalls am Bahnsteig, eine Handvoll BFC-Fans wurde unter Polizeibegleitung vorbei geschleust.
Nach der Ankunft des Zugs vereinigten sich alle „Grün-Weißen“ zu einer Gruppe und marschierten gemeinsam zum Jahn-Sportpark. An einer Treppe zur Max-Schmeling-Halle stand ein Grüppchen BFC-ler,
das lautstark auf sich aufmerksam machte und gestikulierte. Dabei blieb es auch – den Rest des Tages war im Umfeld der Begegnung nichts von den Rivalitäten der früheren Duelle zu spüren. Die
„Schutzmacht“ hielt sich ebenfalls weitestgehend zurück und beschränkte sich auf das Nötigste.
Angekommen im Sportpark gab es leider nur „bleifreies“ Bier. Ich verzichtete und genehmigte mir ein Steakbrötchen für drei Euro. Der Gästeblock war mit rund 1200 Chemikern gut gefüllt, die 2000
Heimfans verteilten sich auf der Gegengeraden und auf der Haupttribüne.
Dynamo Berlin war bis auf die Europapokalspiele in den Achtzigern, auch in früherer Zeit kein wahrer Zuschauermagnet, bezog seinen Ruf eher aus dem engen Zusammenhalt der Anhänger. Geschätzte 50
Mann bildeten den Stimmungsblock, dessen Zusammensetzung man aufgrund des weitläufigen Stadions nicht erkennen konnte. Zaunfahnen waren fast im ganzen Rund verteilt.
Die Stimmung unter den Chemikern war sehr gut. Von „Jung bis Alt“, von „Kutte bis Ultra“ war alles am Start und freute sich auf das Spiel. Vor fast 40 Jahren hatte mich mein Vater das erste Mal
nach Leutzsch geschleppt. Wieviele Auswärtsspiele ich mittlerweile gesehen habe, kann ich nicht sagen – aber ich war mal wieder stolz, dabei zu sein.
Das Spiel war dagegen nicht berauschend. Nach fünf Minuten hatte Daniel Heinze die Führung auf dem Fuß, scheiterte aber per Foulelfmeter an BFC-Keeper Bernhardt Hendl. Chemie-Kapitän Karau musste
nach einem Zusammenprall blutüberströmt behandelt werden, konnte aber mit Kopfverband und gebrochener Nase weiterspielen. Kurz darauf gingen die Berliner durch Joey Breitfeld (38.) in
Führung.
Konnte Chemie im ersten Abschnitt noch mithalten ging es nach der Pause meist nur noch auf das Leutzscher Tor. Matthias Steinborn erhöhte auf 2:0 (55.), David Zeferino Malembana markierte sieben
Minuten später den Endstand.
Schlechte Laune kam dennoch nicht im Block auf. Die Mannschaft wurde das gesamte Spiel über lautstark unterstützt und noch lange nach dem Schlusspfiff gefeiert. Ein Punktgewinn beim
Tabellenzweiten wäre mit einer schnellen Führung durchaus drin gewesen, aber vom Elfmeterpunkt aus sind schon ganz andere gescheitert. Für den nächsten Strafstoß bot sich mein ebenfalls aus dem
Leipziger Vorort Delitzsch stammender und auch nach Frankfurt verzogener Kumpel an, der schon in seiner Jugend gelernt hatte: „Elfer schießt man flach ins Eck und nicht halbhoch.“
Als Fazit zum Spiel bleibt meinerseits zu sagen: Sportlich hat uns der BFC mal wieder geschlagen, fantechnisch ist – bei aller Nostalgie – die Zeit bei uns nicht stehengeblieben. Leider
gibt es dafür keine Punkte.
PS: Die Rückfahrt nach Leipzig im proppevollen Sonderzug war mehr als sensationell. Das habe ich so noch nicht erlebt. Danke an alle Beteiligten.
(gie)
Regionalliga Nordost: Berliner FC Dynamo – BSG Chemie Leipzig
Endstand: 3:0 (1:0)
Tore: 1:0 Joey Breitfeld (38.), 2:0 Matthias Steinborn (55.), 3:0 David Zeferino Malembana (62.)
Zuschauer: 3215
Ort: Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark / Berlin
Datum: Sonntag, 22.10.2017